Dienstag, 16. Mai 2023

Eurovision Song Contest 2023

 

Da ist Deutschland also wieder auf dem letzten Platz gelandet. Nur fühlt es sich dieses Mal deutlich unverdienter an, da Lord of the Lost’s Lied „Blood and Glitter“ eigentlich eine gute Nummer war. Dazu noch auffällige Kostüme und Pyrotechnik; das sollte doch ein gutes Ergebnis zumindest irgendwo im Mittelfeld einfahren, oder?

Nö. Nur 3 Punkte von den Jurys (erwartbar) und 15 vom Publikum (überraschend; Danke an Österreich, Finnland und die Schweiz). Was lief also schon wieder schief? 

 

Nicht so einfach zu sagen dieses Jahr. Am ehesten kann ich die Begründung nachvollziehen, dass der Auftritt eben als Konzert angelegt war – für den ESC muss man aber v. a. für die Zuschauer zu Hause vor dem TV inszenieren und nicht (nur) für das Publikum in der Halle. Das war bei Lord of the Lost leider nicht der Fall; die Kameraführung war nichts Besonderes, keine Gimmicks fürs TV-Publikum, rote Kostüme plus rotes Licht in der Totalen = die Band verschwindet geradezu im Bild. Das hätte viel besser konzipiert werden müssen. Aber Staging für den ESC kann Deutschland ja generell nicht; der Einzige, bei dem alles perfekt zusammenpasste, war Michael Schulte in 2018, und da hat Schulte wohl recht viel selbst gemacht. Dies wurde mit Platz 4 belohnt.

Ich denke schon, dass die Big 5 sich mehr anstrengend müssen, um beim Publikum genug Eindruck zu hinterlassen, dass für sie angerufen wird. Ich glaube aber nicht, dass es damit zu tun hat, dass „uns jeder hasst“, wie so gern behauptet wird. Vermutlich ist es eher der Nachteil, sich nicht in den Halbfinalen beweisen zu müssen – dort werden die schlechteren Nummern gleich ausgesiebt und so müssen die Big 5 dann im Finale gegen Lieder antreten, die bereits vom Publikum unbedingt im Finale gesehen werden wollten.

 


 Ein wenig tröstlich ist, dass bei Betrachtung der kompletten Zuschauerergebnisse auffällt, dass Lord of the Lost gar nicht sooo schlecht ankamen. Bis auf wenige Ausreißer nach oben oder unten landeten sie immer im Mittelfeld – 26 Mal irgendwo zwischen Platz 11 und 18, und hauptsächlich zwischen 14 und 18. Das ist auch grob der Bereich, in dem ich sie am Samstag auch eingeordnet hätte.

Sie wurden also durchaus gemocht – nur nicht genug, um dafür auch Punkte zu bekommen. Es wird schon seit einigen Jahren von den Fans gewünscht, dass alle Plätze des Rankings Punkte bekommen sollen, um eben ein faireres Bild zu zeichnen. Im aktuellen Modus erhalten die zehn besten Beiträge Punkte, alle anderen (in diesem Jahr 16 Beiträge) gehen komplett leer aus. Ein Land, das überall auf Platz 11 liegt, bekommt also ebenso 0 Punkte wie das Land, das überall Vorletzter ist. Und Länder, die allgemein zwar überhaupt gar nicht ankommen, aber dann von dem einen Nachbarland gemocht werden (klassisches Griechenland – Zypern oder Italien – San Marino) und dort viele Punkte bekommen, landen im Endstand dann vor Ländern, die überall im guten Mittelfeld waren.

 

Das System sollte überholt werden. Und wenn man schon mal dabei ist, kann man die Gewichtung von Publikum und Jury auch gleich anpassen. Ich will es nicht ein weiteres Mal erleben müssen, dass die Jurys sich anscheinend abgesprochen haben und ein bestimmtes Land auffällig oft auf Platz 1 oder 2 setzen, sodass es für den Publikumsfavoriten eigentlich unmöglich ist, noch zu gewinnen. Es kann nicht sein, dass 222 Menschen die gleiche Stimmgewalt haben wie mehrere hundert Millionen Menschen! Irgendjemand hatte es dieses Jahr ausgerechnet, und bei dem diesjährigen Abstimmungsergebnis hätte Käärija aus Finnland aus allen Ländern beim Publikum 12 Punkte erhalten müssen, um einen schwedischen Sieg zu verhindern – und hätte dann mit einer lächerlichen Punktezahl von 10 Punkten Vorsprung oder so gewonnen.

 

Und das darf einfach nicht sein. Das Einzige, was mich nicht komplett rasend vor Wut macht, ist, dass Schweden Zweiter im Publikumsvoting war. Zwar für mich unverständlich, da Loreens „Tattoo“ nur eine schlechtere Version von „Euphoria“ war, dazu noch mit einer deutlich langweiligeren Inszenierung, aber sei’s drum. So kann man zumindest sagen, dass das Publikum das Lied ja auch sehr mochte – allerdings mit weitem Abstand hinter Finnlands Käärija mit „Cha Cha Cha“ (376 zu 243 Punkten). Loreen bekam aus keinem einzigen Land von den Zuschauern 12 Punkte – Käärija dagegen in überwältigender Anzahl.

 


Es gab schon andere Jahre, wo der Juryfavorit gewonnen hat, Duncan Laurence aus den Niederlanden zum Beispiel, oder Jamala aus der Ukraine. Allerdings gab es in diesen Jahren keinen so deutlichen Publikumsfavoriten, die letztlichen Sieger waren auch beim Publikum sehr beliebt, und so erschien das Ergebnis wie ein guter Kompromiss.

Nicht so in diesem Jahr. Das Publikum wollte „Cha Cha Cha“, mit absoluter Mehrheit. Die Jurys haben jedoch einen belanglosen Dancepop-Song durchgedrückt von ihrem Jedes-Jahr-aufs-Neue-Favoriten Schweden, ebenfalls mit solch erdrückender Mehrheit, dass es einfach nur unglaubwürdig wirkt. Wirklich? So viele Jurys fanden, dass dies die absolut beste Komposition im Wettbewerb war? Die ständige Erwähnung, dass ja im nächsten Jahr ABBAs Sieg 50-jähriges Jubiläum hat, tat sein Übriges dazu, um von den Fans ein abgekartetes Spiel zu vermuten.

 

Dieses Ergebnis wird vermutlich nur dazu führen, dass in den kommenden Jahren die Fans noch extremer für den schrägen Fan-Favoriten abstimmen werden, um zu verhindern, dass die Jury wieder langweiligen Mainstream-Pop gewinnen lässt. Dies wiederum nimmt anderen Beiträgen möglicherweise auch ein paar Punkte weg. Viele vermuten, dass z. B. Finnland einiges an Anrufen von anderen, in der Fan-Community durchaus beliebten Beiträgen wie Australien, Deutschland, oder auch Österreich, abgezogen hat.

 


Die Jurys wurden nach Russlands Sieg 2008 eingeführt, um „mehr Wert auf die Songqualität“ zu legen. Dem Western war das Votingverhalten des Ostblocks ein Dorn im Auge, die immer wieder mit lauten Spaß-Nummern weit vorne landeten (wir erinnern uns an die Brot backenden Omas oder die polnische Butterstampferin). "Punktschieberei! Unfair!", wurde vom Westen skandiert. Dass die osteuropäischen Länder sich eventuell gegenseitig Punkte geben, weil sie sich kulturell nahestehen und einen sehr ähnlichen Geschmack haben, kam den Kritikern anscheinend nicht in den Sinn. Und dass es im Westen ebenfalls diese „Nachbarschaftshilfe“ gab, wo sich z. B. die Skandinavier regelmäßig gegenseitig hoch bepunkteten und Griechenland – Zypern bereits eine Art Running Gag war, wurde geflissentlich ignoriert. Mehr noch, wenn man von den Nachbarländern mal keine 12 Punkte bekam, wurde gleich geheult, wie das denn sein kann. Heute bekommt Deutschland eigentlich nur sicher aus der DACH-Region Punkte. Die frühere „Mallorca-Connection“ besteht schon lange nicht mehr.

Nachbarschaftshilfe ist beim ESC normal und gehört auch irgendwie dazu, über irgendwas muss man sich ja aufregen. ;) Mir wäre es lieber, wenn die Jurys wieder abgeschafft würden. Ich kann eher damit leben, dass das Publikum mehrmals hintereinander eine Blödelnummer aus Osteuropa wählt, als dass die Jury den Sieg von überdeutlichen Publikumsfavoriten so offensichtlich verhindert. Und für einen Sieg beim Publikum muss ein Song sowieso flächendeckend gut ankommen, da reichen nicht nur ein paar Nachbarländer. 

 

Ein bisschen „Korrektur“ durch die Jurys kann ich jedoch dahingehend sehen, dass früh startende Länder im Finale benachteiligt sind. Die Zuschauer sitzen vielleicht noch nicht alle bequem vorm TV sondern kramen noch rum, kommen später nach Hause etc. Siehe Österreich dieses Jahr, die große Fan-Favoriten waren, aber auch nur wenige Publikumspunkte bekamen. Da spielte möglicherweise nicht nur die Inszenierung eine Rolle, sondern auch der Starplatz.

Von daher könnte ich damit leben, die Jurys zu behalten, ihnen aber weniger Macht zu geben. Vielleicht eine Verteilung von 25% Jurypunkte und 75% Publikum. So wie es aktuell ist, ist es leider eher unbefriedigend. Und das Publikum hat ja gezeigt, dass es durchaus vernünftige Entscheidungen treffen kann – die Halbfinale dieses Jahr waren reines Zuschauervoting und das hat sehr gut geklappt. Hinzu kommt, dass Zuschauer sich… deutlich schlechter bestechen lassen. ;)

 


Wie dem auch sei. Dieses Jahr bleibt leider ein schaler Beigeschmack, nicht nur, weil Deutschland dieses Mal doch unverdient ganz hinten gelandet ist, sondern auch, weil die Jurys mit ihrem auffälligen Voting den Sieg des absoluten Publikumslieblings verhindert haben. Nun also zum gefühlt hundertsten Mal Schweden… yay?

 

Nette kleine Randnotiz:

Obwohl Lord of the Lost bei den Jurys allgemein sehr schlecht ankamen, gab es doch vereinzelte Jurymitglieder, die Gefallen am deutschen Beitrag fanden. In Rumänien sah man uns einmal auf Platz 5, Norwegen hatte zwei Mitglieder, die uns auf Platz 6 setzten, und in Irland sah man uns auf 6 und 7.

Besonders erwähnen möchte ich jedoch die Jurymitglieder, die uns auf Platz 2 (!) setzen: Vielen Dank an die Juroren aus Aserbaidschan, Estland, und Tschechien. Schön zu sehen, dass unser Beitrag euch gefallen hat!

 

Samstag, 17. Oktober 2020

„The Untamed“: Sehnsucht und Schwarze Magie im alten China

So. Nachdem diese chinesische Serie mich in den aktuellen deprimierenden Zeiten doch echt gut bei Laune gehalten hat und ich ein wenig in der Fan-Community „versackt“ bin, finde ich es nur fair nun auch einen Post dazu zu schreiben.

Aufmerksam wurde ich auf „The Untamed“ (OT: 陈情令, Pinyin: Chén Qíng Lìng) natürlich - wie sollte es auch anders sein - durch diverse Blogs, die mit großer Begeisterung über diese Serie berichteten, nachdem sie Ende 2019 auf dem amerikanische Netflix startete. Ich habe keinerlei Ahnung von chinesischen Drama-Serien, und bin geprägt durch massenhaft amerikanische und deutsche TV-Produktionen (plus Anime, immerhin!). Daher waren die ersten paar Episoden für meine westlichen Sehgewohnheiten erst einmal gewöhnungsbedürftig. Dazu später mehr. Wenn man dran bleibt, zieht „The Untamed“ den Zuschauer aber immer mehr in seinen Bann, und ich habe teilweise furchtbar mitgelitten. 

„The Untamed“ basiert auf dem queeren Roman „Mo Dao Zu Shi“ („The Grandmaster of Demonic Cultivation“) und wurde von der unter dem Pseudonym schreibenden Autorin Mo Xiang Tong Xiu  von 2015 bis 2016 online veröffentlicht. Der große Erfolg des Romans führte u. a. zu einer sehr beliebten Zeichentrick-Adaption (Donghua), einem ebenfalls hochgelobten Audiodrama, einer Manhua-Adaption, und schließlich der Realverfilmung als Webserie auf dem Kanal Tencent Video. Die Serie ist mit 50 Folgen abgeschlossen; es gibt zwei Spin-Off-Filme.
Genau wie der Roman war auch die Serie extrem erfolgreich auf dem chinesischen Markt und gehört zu den am höchsten bewerteten chinesischen TV-Dramen. Wenig überraschend machte dieser Erfolg aus dem beiden Hauptdarstellern Xiao Zhan und Wang Yibo Megastars, wobei beide auch vorher kein unbeschriebenes Blatt waren und v. a. Wang bereits sehr erfolgreich in der Musikbranche war.

 
Wenn du mit deinem Schwarm flirten willst und der dich ignoriert

Bei „The Untamed“ handelt es sich um eine Fantasy-Serie, die dem Wuxia-Genre angehört. Vereinfacht ausgedrückt benutzen die Charaktere eine Mischung aus Meditation, Martial Arts, und Studium von gelehrten Schriften, um ihre magischen Fähigkeiten auszubilden und zu stärken. Diese Fähigkeiten nutzen sie, um die Welt von rastlosen oder bösen Geistern, Dämonen und Monstern zu befreien. Wer besonders stark und rein im Geist ist, kann es bis zur Unsterblichkeit bringen. Das Ganze spielt im (pseudo)historischen China in einer von Klassen geprägten Gesellschaft. Die Charaktere gehören öfter (Familien)Gemeinschaften und -clans an, die sich durch spezielle Magiestile auszeichnen.

Puh okay. Das zum Hintergrund. Generell sind aber selbst dem unbedarften westlichen Zuschauer ein paar asiatische Fantasy-Elemente bekannt, z. B. der ausgeklügelte Schwertkampf in der Luft, wie man ihn u. a. aus „Tiger & Dragon“ kennt.

Worum geht es nun in „The Untamed“?
Wei Wuxian (Xiao Zhan) ist als der gefürchtete Yiling Patriarch bekannt, der Dämonische Magie gegen die anderen Clans einsetzte und für den Tod vieler Menschen verantwortlich war. Sechzehn Jahre nach seinem Tod wird er in einem Opferritual wiedergeboren. Daran geknüpft ist jedoch die Bedingung, dass er die Person rächt, die sich für ihn geopfert hat. Wei Wuxian nimmt das mal so hin und trifft auf seiner Mission nicht nur seinen - nicht gut auf ihn zu sprechenden - Bruder, sondern auch seinen früheren besten Freund und Seelenverwandten Lan Wangji (Wang Yibo).

Der folgende Flashback zeigt, wie sich Wei Wuxian und Lan Wangji als Teenager kennenlernen, und trotz Lan Wangjis frostiger Unnahbarkeit Freunde werden. Im Hintergrund droht die Machtgier des Bösewichts Wen Ruohan, der alle anderen Clans unterjochen will, was schließlich zum Krieg führt. Wei Wuxian und Lan Wangji sowie ihre Freunde und Familien werden in diesen Konflikt hineingezogen und wir sehen, wie Sonnenschein Wei Wuxian durch äußere Umstände und eigene Entscheidungen auf einen Pfad gerät, der ihn schließlich zum bei allen verhassten Yiling Patriarch macht.

 
Die beste Schwester auf der ganzen Welt

„The Untamed“ macht es einem am Anfang nicht unbedingt leicht. Selbst für Leute, die viele chinesische Dramen sehen, ist die Erzählstruktur etwas seltsam. Nach zwei Episoden in der Gegenwart folgt ein 30-Episoden-langer Flashback. Und für jemanden, der chinesische Dramen nicht kennt, kommt noch der Mini-„Kulturschock“ dazu. Denn natürlich werden Szenen etwas anders inszeniert, die Charakterentwicklung läuft anders ab, manches wirkt zunächst sehr „over the top“, aber soll so. Die Serie lässt sich Zeit, und manche dramatischen Momente oder Genrekonventionen wirken erst dann so richtig, wenn man die Kultur versteht.

Hinzu kommt dann noch die Sprachbarriere - derzeit liegt die Serie nur im chinesischen O-Ton mit englischen Untertiteln vor (und diese Untertitel sind teilweise auch eher missverständlich, je nachdem welche Quelle man nutzt). Viele Charaktere haben nicht nur zwei Namen, sondern gleich noch ein oder zwei Titel, und „dank“ der ethnischen Gesichtsblindheit sehen erst einmal viele Schauspieler gleich aus.

Aber! Durchhalten! Eventuell sogar Episoden 1 und 2 komplett überspringen. Denn die Serie hat mich irgendwie „eingesogen“. Am Anfang fand ich es alles etwas schräg, und hab mich gefragt, wie aus diesem verrückten, fröhlichen Kerl bitte schön der von allen gefürchtete und verhasste Yiling Patriarch werden soll. Bei Episode, oh sagen wir 10, war ich so dermaßen in der Serie drin und hing an all diesen Charakteren, dass Abbrechen keine Option mehr war.

Die schöne und zunächst tragische Liebesgeschichte zwischen Wei Wuxian (der das alles erst einmal gar nicht mitbekommt, aber trotzdem auf seine Art vor sich hin leidet) und Lan Wangji (der nach anfänglicher verwirrter Abneigung sehr schnell „all in“ ist und gleich mal ein Liebeslied komponiert) ist einfach großartig.
Alle romantischen Klischees werden erfüllt - lange sehnsuchtsvolle Blicke, ständige Berührungen, im Kampf zusammenhalten, sich als „Seelenverwandte“ bezeichnen, von den Umständen getrennt werden, zusammen in einer Höhle gefangen sein…
Das ganze Produktionsteam und die Schauspieler geben sich außerdem alle Mühe, trotz der chinesischen Zensur diese Liebesgeschichte deutlich zu machen. Wer Verfilmungen von Jane Austen-Romanen u. Ä. mag, wo die Protagonisten ewig umeinander kreisen und sich nacheinander sehnen, aber von äußeren Umständen zunächst an ihrer Liebe gehindert werden, der ist hier goldrichtig.

 
 Ihr versteht das nicht, die beiden starren sich wirklich die ganze Zeit so an (oder einander sehnsuchtsvoll hinterher).

Es ist aber nicht nur diese Dynamik (und die unglaublich gute Chemie der beiden Hauptdarsteller), die die Serie so gut macht. Gefundene Familien sind ein großes Thema. So wurde Wei Wuxian nach dem Tod seiner Eltern adoptiert und liebt seine Adoptivgeschwister Jiang Cheng (Wang Zhuocheng) und Jiang Yanli (Xuan Lu) über alles. Ein Teil des Wen-Clans wird nach dem Krieg für Wei Wuxian zu einer zweiten Familie. Und in der Gegenwartshandlung bilden die vier Junior-Schüler ein lustiges Quartett und werden sozusagen von Wei Wuxian adoptiert. Generell gibt es auch viele leichte und lustige Momente, es ist längst nicht durchgängig so dramatisch, wie es hier klingt.

„The Untamed“ ist einfach sehr gut darin, dem Zuschauer seine Charaktere so nahe zu bringen, dass es ihn kümmert. Ich möchte, dass Lan Wangji und Wei Wuxian glücklich werden.  Ich leide mit ihnen und mit Jiang Cheng, der richtig viel durchmachen muss. Ich bin ebenso frustriert wie die Charaktere, wenn Jiang Yanli und ihr Verlobter mal wieder eine unglaublich unangenehme Nicht-Unterhaltung führen (oh mein Gott, redet doch einfach mal miteinander!). Ich möchte Wen Ning einfach nur knuddeln und bewundere seine Schwester Wen Qing für ihre sachliche Art. Die Nie-Brüder sind so unterschiedlich und so toll, und Lan Wangjis Bruder Lan Xichen trägt so viel auf seinen Schultern… Selbst die Junior-Schüler, bei denen ich mir zunächst nicht sicher war, sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen und jetzt liebe ich sie (hervorragendes Comic Relief!). Und mein Lieblingssoziopath Xue Yang sorgt für einige sehr dramatische Momente.

 
Links Stil-Ikone Jiang Cheng, rechts der immer elegante Lan Xichen.

Tatsächlich sind die Schauspielleistungen auch durch die Bank weg zumindest gut wenn nicht sogar großartig (nicht unbedingt immer gegeben in chinesischen Dramaserien). Allen voran Xiao Zhan spielt sich wirklich die Seele aus dem Leib und kann eine große Fülle an Emotionen zeigen; von überschäumenden Freude zu abgrundtiefer Verzweiflung ist alles dabei. Wang Yibo hat mehrmals für Lan Wangji vorgesprochen, aber man war sich unsicher, ob er die Rolle glaubhaft verkörpern könnte. Letztlich war es die richtige Entscheidung ihn zu nehmen. Es ist beeindruckend, mit welch winzigen Änderungen im Gesichtsausdruck Wang das Gefühlsleben von Lan Wangji darstellen kann, und als Zuschauer wird man irgendwann so gut wie Wei Wuxian darin, seine Stimmung anhand des minimal gehobenen Mundwinkels oder der leicht angespannten Augenbraue zu erkennen.

Aber auch viele andere bleiben sehr positiv im Gedächtnis, Xuan Lu und Wang Zhuocheng als die Jiang-Geschwister, Ji Li als der verhuschte Nie Huaisang, Liu Haikuan als Lan Wangjis stets eleganter und gütiger Bruder Lan Xichen, Meng Ziyi als kompetente Ärztin Wen Qing, Guo Cheng als vorwitziger Lan Jingyi, Yu Bin als schüchterner und doch mutiger Wen Ning, Zhu Zanjin als stets dienstwilliger Meng Yao… ach eigentlich sind sie alle erwähnenswert.

Und glücklicherweise war es auch nach wenigen Episoden kein Problem mehr, die ganze Charaktere auseinanderzuhalten. Go me!

Nicht nur die Charakterentwicklung profitiert von der von Anfang an festgelegten Episodenzahl. Es gibt einige Handlungspunkte, die erst zum Ende hin wirklich erklärt oder näher beleuchtet werden. Auf manche Dinge wird schon sehr früh hingewiesen, anderes erhält kleine Andeutungen hier und da, und wenn sich dann später alles zusammenfügt, hat sich das Warten wirklich gelohnt und man ist als Zuschauer vollauf zufrieden. Manche Twists sollte man vorher wirklich nicht wissen. Ich war leider schon für alles Wichtige gespoilert, habe mich aber trotzdem gefreut oder war schockiert. Aber manches nicht gewusst zu haben... das wäre noch besser gewesen.

 
Pretty Pretty!

Das Budget für die Serie war beschränkt und dies sieht man auch manchmal. Man hat wohl den Großteil des Budgets in die Kostüme, Perücken und Ausstattung gesteckt, was eine sehr gute Entscheidung war. Besonders die Kostüme sind wunderbar und unterstreichen die Charaktere sehr gut. Jiang Cheng ist eine Stilikone in Lila (und manchmal Türkis) und Wei Wuxian rockt den schwarz-roten Emo-Look. Die Lans sind fehlerlos elegant in weiß und blau, und Wen Qings rote Roben sind ein Hingucker.

Manche der Sets sind wunderschön, v. a. Lotus Pier und Koi Tower haben eine tolle Ästhetik. Die Kamera fängt diese Orte in schönen Kamerafahrten ein; generell ist die Kameraarbeit häufig sehr gut und passend, v. a. in den Außenaufnahmen. Die Serie ist tatsächlich einfach schön anszusehen.

Wie viele chinesische Historien-Dramen ist auch „The Untamed“ synchronisiert. Dies hat mehrere Gründe, u. a. die vielen unterschiedlichen Dialekte der Schauspieler und schwankende Tonqualität durch Außendrehs. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass die Betonung etwas off war, aber die meiste Zeit war die Synchro überzeugend und passend. Ji Li als Nie Huaisang ist übrigens der einzige Darsteller, der sich selbst synchronisiert hat.

 
So ikonisch, dass jeder, der die Serie gesehen hat, diesen Screenshot sofort zuordnen kann.

Nun, wenn das Geld in Kostüme und Ausstattung geflossen ist, wo hat man dann gespart? Bei den Special Effects. Manches ist gut gelungen (z. B. die schwarzen Raucheffekte, wenn Wei Wuxian Dämonische Magie benutzt), aber vieles ist nicht gerade überzeugend. Gleich die erste Szene hat Schwerter, die offensichtlich nicht durch Hände oder in Körper stechen. Die wandelnde Statue und v. a. das Schildkröten-Schlangen-Hybrid-Monster sind aus einem mittelmäßigen bis schlechten B-Film aus den 2000ern. Und über den animatronischen Hund aus den 60ern hüllen wir lieber ganz den Mantel des Schweigens.
Aber die Schauspieler bemühen sich nach Kräften, das Ganze glaubwürdig rüberzubringen und tun was sie können. Und ehrlich gesagt sehe ich lieber schlechte CGI-Effekte als miese Kostüme - die tragen die Charaktere nämlich die ganze Zeit, während die Effekte nur hin und wieder zum Einsatz kommen. 

Es gibt für das Genre vergleichsweise wenig ausgedehnte Kampfszenen, die mal mehr, mal weniger gut choreografiert und gefilmt sind. In dieser Serie liegt der Fokus aber offensichtlich nicht auf ausgeklügelten Kampfszenen, sondern auf Charakterentwicklung und -interaktion, Drama, politischem Kommentar und Ähnlichem.

Besonderes Augenmerk wird tatsächlich auf den Einfluss der öffentlichen Meinung gelegt: Wie leicht lassen sich Menschen beeinflussen, wie schnell bringen Gerüchte jemanden zu Fall, wie schnell dreht sich die öffentliche Meinung, wenn nur die richtigen Leute etwas zu sagen haben oder wenn ein neuer Sündenbock gefunden wird?

Nein, dies ist keine Fanart, sondern ein offizieller Still aus der Serie

Sehr spannend auch zu sehen, wie unterschiedlich Charaktere mit Schuld umgehen; oder wie es sich auswirkt, wenn die Familie gewissen Erwartungen an einen stellt oder man unter sehr strikten Vorschriften aufgewachsen ist. Jeder der Hauptcharaktere hat sein Päckchen zu tragen und ist nicht ohne Trauma durch die Kindheit gekommen. Jedoch gehen alle unterschiedlich damit um und man kann sich ein wenig in Analysen verlieren, wenn man das möchte. Es gibt außerdem mehrere Parallelen zwischen den Charakteren, was ihre Ausgangslagen im Leben angeht, und welch unterschiedliche Wege sie einschlagen.

Wer sich nach diesem langen Sermon tatsächlich einmal an „The Untamed“ versuchen will, kann dies derzeit entweder auf Youtube oder Viki.com tun. Auf beiden Seiten liegt die komplette Serie mit englischen Untertiteln vor. Ich fand die Untertitel auf YouTube teilweise etwas einfacher zu lesen, Viki ist aber wohl etwas näher am Originaltext und hat keine Tonprobleme, dafür aber deutlich mehr Werbung.

Wer einen etwas fan-lastigeren Kommentar zur Serie lesen möchte, dem kann ich Aja Romanos Review empfehlen. Diverse Links in ihrem Artikel enthalten jedoch Spoiler.

Fazit: "The Untamed" bietet packende Charaktere in einer manchmal tragischen, manchmal richtig lustigen Handlung. Man sollte nicht alles auf Logik hinterfragen und auch die Special Effects Special Effect sein lassen. Genießt einfach die langsam entstehende Liebesgeschichte zwischen den Hauptcharakteren sowie die spannenden Verwicklungen zwischen den ganzen Charakteren. Ein guter Einstieg in die Welt der chinesischen TV-Dramen und dort eines von sehr hoher Qualität.

 

 
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Dienstag, 4. Februar 2020

"1917": Sam Mendes und Roger Deakins in Hochform




Ich mag keine Kriegsfilme. Es ist einfach nicht meine Art Film, häufig brutal und dazu noch deprimierend. Denn Kriegsfilme sind heutzutage so gut wie immer auch Anti-Krieg-Filme, die uns die Graumsamkeit und Unmeschlichkeit eines Krieges vor Augen führen sollen, und natürlich keine Propaganda mehr. Und so folgt man meist einer Hauptfigur oder auch einer kleineren Gruppe, die irgendwann mitten im Schlachtengetümmel ist, rechts und links werden Menschen im Kugelhagel niedergemetzelt, evtl. hält man auch gern noch drauf, wenn Körperteile durch Granaten weggesprengt werden, oder ein Helikopter vom Himmel stürzt.

Die Hauptfiguren vollbringen irgendwelche Heldentaten, erfüllen ihre Mission, beenden vielleicht sogar den ganzen Krieg und werden gefeiert – oder sterben zumindest effektvoll als Helden. Und am Ende wird uns wieder gesagt, wie schrecklich Krieg doch ist und dass wir das doch bitte sein lassen sollen. Da sterben schließlich Menschen auf grausame Art. Und wir haben zwei Stunden der Inszenierung eben dieser Todesszenen zugeschaut; den Explosionen, dem Schlachtengetümmel, den Stunts der Kampfflieger, den verstümmelten Körpern, die man so auch aus dem letzten Horrorfilm kennt.


Denn immer ist ein Kriegsfilm, der uns tatsächlich Schlachten zeigt, irgendwo auch ein Spektakel. Und die abgehärtete Jugend von heute sitzt da und denkt sich im schlimmsten Fall nur, was für eine krasse coole Action sie da sieht. Leute, denen der Kopf weggeschossen wird, das kennen sie schließlich aus dem letzten Tarantino; abgetrennte Körperteile aus „Saw“ oder „Hostel“. Denn ja, es werden die Grausamkeiten des Krieges gezeigt, denn wir machen keine Propaganda – aber trotz aller Ernsthaftigkeit braucht es eben doch oft auch Spektakel. Das will das Publikum sehen. Und so verhallt häufig dann doch der vorgesehene Effekt – war schon schlimm damals, aber die Action war schon auch toll.


Natürlich sind nicht alle Filme so, es gibt auch Vertreter mit niedriger Altersfreigabe, die dennoch sehr gut funktionieren und das Publikum fesseln können. Aber viele der Filme, die häufig als moderne Klassiker des Genres angesehen werden, bedienen dieses Spektakel auf gewisse Weise – irgendwann gibt es eine Schlacht, einen Helikopterabsturz, einen Angriff auf beengtem feindlichen Gebiet.

Und deswegen mag ich „1917“. Sehr sogar. Es ist ein Kriegsfilm, den ich mir gerne noch einmal anschauen werde, weil er extrem effektiv und großartig anzusehen ist. Für mein Empfinden hat dieser Film die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges besser illustriert als manch „lauterer“ Vertreter des Genres. Ich werde „Der Soldat James Ryan“ vermutlich nie mehr gucken, „1917“ dagegen schon.

Der Film beginnt mit den beiden jungen Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay), denen der Auftrag erteilt wird, einer neun Meilen entfernten Division eine wichtige Nachricht zu überbringen. Die Division soll einen für den nächsten Tag geplanten Angriff absagen, denn neueste Informationen zeigen, dass sie in eine Fallen laufen würden. Da Blakes älterer Bruder zu eben dieser Division gehört, wird der Auftrag zu einer besonders persönlichen Mission. Auf dem Weg liegen das tückische Niemandsland zwischen den Schützengräben und die zerbombte Stadt Ecoust, sowie die allgegenwärtige Angst, jederzeit auf den Feind treffen zu können.


Die beiden Hauptdarsteller sind hervorragend. MacKay kennt man u. a.  aus „Captain Fantastic“ mit Viggo Mortensen. Er spielt den eher vorsichtigen, etwas älteren Soldat mit bereits ernsthafter Kampferfahrung; Chapman's Blake hingegen ist offensichtlich noch nicht so lange an der Front und sieht das Ganze noch als Chance, Ehre für die Familie und das Vaterland zu bringen.


Regisseur Sam Mendes ist gerade bei den Charakteren ein Meister in „Show Don’t Tell“. Es gibt keine typischen „Lagerfeuerszenen“, wo die Protagonisten sich etwas aus ihrer Kindheit erzählen oder über die Liebste sinnieren, die sie heiraten werden, wenn sie nach Hause kommen. Die (wenigen) Dialoge machen die Charaktere lebendig und geben einen kleinen Einblick, wie sie ticken. Gerade der verschlossenen Schofield gewinnt mit der Zeit an Profil. Die Natur des Films (Mission mit engem Zeitlimit) bietet uns nicht viel Gelegenheit, die Charaktere wirklich zu vertiefen – aber das muss sie auch gar nicht. Wir bekommen die Essenz der Charaktere gezeigt, man leidet mit ihnen, und gleichzeitig sind sie eben nur zwei von Millionen von Soldaten, die genauso sind wie die beiden.
Unterstützt werden die beiden eher unbekannten Hauptdarsteller durch berühmte Namen in kleinen, aber wichtigen Nebenrollen. Colin Firth, Benedict Cumberbatch, Mark Strong – sie alle bringen eine gewisse Gravitas mit, die die Autorität ihrer Charaktere unterstreicht. Besonders im Gedächtnis blieb mir auch Andrew Scott („Sherlock“, „Fleabag“), der am Anfang als zynischer Leutnant den beiden Soldaten den Weg erklärt.

Wenn über „1917“ berichtet wird, dann auch immer im Zusammenhang mit Kameraführung und Schnitt. Der Film ist nämlich so gedreht, als gäbe es keine Schnitte (bis auf einen so gewollten „Blackout“). Manche sehen dies als unnötigen Gimmick an, ich fand jedoch, dass es die Spannung sehr stark erhöhte. Der Zuschauer bekommt dadurch keine Atempause, sondern ist quasi die ganze Zeit „mit dabei“ - ist so angespannt wie die Charaktere, die genau so wenig wie wir wissen, ob hinter der nächsten Biegung nicht ein feindlicher Soldat lauert. Die erste Hälfte im Niemandsland und den deutschen Schützengräben wirkt beinahe wie ein Horrorfilm, so wird hier an der Spannungsschraube gedreht.
Die Kameraarbeit von Altmeister Roger Deakins ist exquisit und sollte ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit seinen zweiten Oscar einbringen. Er findet grandiose Bilder, sei es das abstoßende Niemandsland, ein reißender Fluss, ein Wettlauf mit der Zeit am Rand des Schützengrabens oder eine nur von Feuer und Leuchtraketen erhellte Stadt bei Nacht. Einige dieser Szenen sind tatsächlich Szenen für die Ewigkeit, so einprägsam sind sie. Die zweite Hälfte des Films hat beinahe schon eine surreale Anmutung, was sich durch die vorangehenden Geschehnisse aber tatsächlich erklären lässt.


Ebenfalls wirklich toll sind Sounddesign und Musik. Thomas Newman unterstützt mit seinem Score den Film hervorragend. Hinzu kommt ein wunderschön wehmütiger Moment, in welchem das Lied „Poor Wayfaring Stranger“ gesungen wird.



Warum nun meine Einleitung über Spektakel in Kriegsfilmen? Weil diese Art Spektakel in „1917“ fast vollständig fehlt. Wenn man so will, kann man die Art der Kamerarbeit als Spektakel bezeichnen, wobei sie zumindest mich nie vom Geschehen abgelenkt, sondern dieses im Gegenteil noch unterstützt hat. Aber wir sind in keiner Schlacht, notwendige Kämpfe sind schnell vorbei und der einzige wirklich heroische Moment ist tatsächlich auch verdient (und selbst der wird danach wieder gedämpft).
Und doch zeigt der Film die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges sehr effektvoll und vermutlich sogar nachhaltiger als viele andere Kriegsfilme. Denn wir sehen das Nachspiel. Das Niemandsland besteht aus Schlamm, Granatenkratern, Stacheldraht – und Leichen. Leichen, Ratten, Tierkadaver. Von der Kamera nicht effektheischerisch eingefangen, sondern als Fakt präsentiert. Da müssen die beiden Hauptfiguren eben dran vorbei. Dies ist auch nicht das einzige Mal, dass die Opfer des Krieges gezeigt werden. „Niemanden zurücklassen“ - dafür bleibt im Krieg dann doch meist keine Zeit. Und obwohl die Mission wichtig ist, ist es eben doch nur ein weiterer Tag in diesem Krieg. Und am nächsten Tag wird es wieder genauso sein, man macht weiter, rennt in sein Verderben, Tausende sterben – für Linien auf einer Karte.

Der Film hat eine starke Nachwirkung, ich hatte danach wirklich das Bedürfnis, das zu diskutieren und zu überlegen, warum mir der Film so gut gefallen hat. Ja, die Handlung ist nicht gerade verschachtelt, aber das muss sie ja auch nicht sein. Simpel aber dafür effektiv. 


Fazit:
Hervorragend gespielt und gekonnt inszeniert, ist "1917" ein Kriegsfilm, den man tatsächlich gesehen haben muss. Je größer die Leinwand, desto besser.

Sonntag, 29. Dezember 2019

"Hamilton": Das Hitmusical der letzten Jahre in London



Wenn es in den letzten Jahren eine unglaubliche Erfolgsstory in der Theaterszene gab, dann ist es definitiv die des Hip-Hop-Musicals „Hamilton“. Die Show von Drehbuchautor/Texter/Komponist Lin-Manuel Miranda hat so ziemlich alles gewonnen, was es in der Branche zu gewinnen gibt (u. a. den Grammy, den Pulitzerpreis, und elf Tony Awards). Uraufgeführt Anfang 2015 am Off-Broadway und im Sommer desselben Jahres dann an den New Yorker Broadway gezogen, erfreut das Musical sich nach wie vor ungebrochener Beliebtheit beim Publikum und spielt täglich vor ausverkauftem Haus.

Miranda konnte bereits 2008 mit dem Musical „In the Heights“ einen großen Erfolg verbuchen (die Verfilmung mit Anthony Ramos kommt 2020 in die amerikanischen Kinos). Im Urlaub las er Ron Chernows 800-seitige Biografie über Alexander Hamilton (entspannende Strandlektüre!) und hatte auf einmal die Idee, aus Hamiltons bewegtem Leben ein Musical zu machen. 
Hamilton war einer der Gründerväter der USA und ihr erster Finanzminister; er kam als Waisenjunge aus der Karibik nach New York und arbeitete sich zügig zu George Washingtons rechter Hand hoch. Für seine Intelligenz und sein loses Mundwerk bekannt, womit er immer wieder aneckte und u. a. mit Thomas Jefferson aneinander geriet, machte er schnell politisch Karriere, heiratete mit Eliza Schuyler in eine angesehene Familie, und sorgte mit einer Affäre für den ersten Sexskandal der jungen Vereinigten Staaten. Er starb 1804 im möglicherweise berühmtesten Duell der jüngeren amerikanische Geschichte durch den damaligen Vize-Präsidenten Aaron Burr.

Im Dezember 2017 feierte „Hamilton“ in London Premiere. Das Victoria Palace Theatre wurde mit dieser Produktion nach umfangreichen Bauarbeiten, die eine völlige Neugestaltung der inneren Räumlichkeiten beinhalteten, wiedereröffnet. Seitdem können sich alle Beteiligten nun auch in London über ein ständig ausverkauftes Haus freuen.


 Da London nun einmal deutlich einfacher zu erreichen ist als New York, konnte ich mir die Möglichkeit natürlich nicht entgehen lassen, und habe diesen Oktober endlich mein aktuelles Lieblingsmusical live sehen können. Die Musik ist ein wunderbar abwechslungsreicher Mix aus Hip Hop, Rap, R&B, Soul und Jazz, mit der ein oder anderen Ballade und sogar ein bisschen Britpop (passenderweise für die kommentierenden Songs König Georges III.).
Das Musical kommt ohne Ouvertüre aus; das Publikum wird gleich in die Handlung geworfen, durch die uns Aaron Burr höchstpersönlich führt. Wir beginnen mit Hamiltons Ankunft in New York, folgen ihm über Heirat, Revolution, politischen Aufstieg und Fall, bis zu seinem Tod durch Burrs Hand. Einige der Darsteller spielen in den zwei Akten unterschiedliche Rollen, z. B. im 1. Akt Verbündete von Hamilton, im 2. Akt dann seine politischen Gegner oder seinen Sohn, während wir chronologisch voranschreiten.

Die Darsteller in der besuchten Vorstellung waren alle großartig, wobei diese Qualität natürlich für das West End typisch ist. Als Alexander Hamilton sahen wir die alternierende Besetzung Karl Queensborough, der Hamilton zu Beginn mit dem passenden jugendlichen Ungestüm spielt und seinen Wandel zum ernsthafteren, älteren Mann glaubhaft macht. Großartig war Rachelle Ann Go als Hamiltons Frau Eliza, die ebenfalls eine große Bandbreite an Emotionen in ihrer Rolle zeigen konnte. Ebenfalls sehr präsent war Sifiso Mazibuko als Aaron Burr, der diesen schwierigen Charakter gut in Szene setzte und mit netten kleinen Details aufwartete (z. B. das ständige Lächeln, das Burrs Paradesatz „Talk less, smile more“ gut unterstrich). Er ließ einen die zunehmende Frustration spüren, die Burr für Hamilton fühlte.
In den weiteren wichtigen Rollen glänzten Sharon Rose als Angelica Schuyler (mit ihrem hervorragenden Solo „Satisfied“), Dom Hartley-Harris als George Washington, Stephenson Ardern-Sodje als John Laurens/Philip Hamilton, Nuno Queimado als Marquis de Lafayette/Thomas Jefferson und Tarinn Calender als Hercules Mulligan/James Madison (beide mit vielen lustigen Momenten). Abgerundet wurde das Hauptensemble durch Courtney-Mae Briggs als Peggy Schuyler/Maria Reynolds und Aaron Lee Lambert als King George (der natürlich die großen Lacher auf seiner Seite hatte und seine Auftritte gehörig auskostete).


Großartig war es, neben den Songs nun endlich einmal das Staging, die Choreographie und das Lichtdesign bewundern zu können. Es gibt nur ein großes Bühnenbild und es wird mit sehr wenigen Requisiten gearbeitet, die vom Ensemble für Szenenwechsel eingebunden in die Choreographie herein- und wieder hinausgebracht werden. Es gibt eine Drehbühne in der Mitte, die sehr effektiv eingesetzt wird (z. B. für  die Zeitraffermomente in „Satisfied“ oder am Ende beim Duell zwischen Hamilton und Burr). Auf der Bühne ist oft viel los, das Tanzensemble ist großartig und übernimmt auch immer wieder die Rollen von Nebencharakteren.
Das sehr passende Lichtdesign rundete die Show sehr gut ab; einzelne Spots wurden für dramatische Momente eingesetzt (oder für einen komödiantischen Effekt); der Sound war ebenfalls bis auf wenige Ausnahmen sehr gut (nur Burr war in einzelnen Momenten nicht ganz so gut zu verstehen).

Ich bin unglaublich froh, dass ich die Show endlich sehen konnte. Durch die neue Ausstattung ist die Beinfreiheit im Victoria Palace Theatre auch gar nicht so schlecht, und unsere Plätze im 1. Rang (Royal Circle) waren ebenfalls wirklich gut. Man konnte die komplette Bühne problemlos einsehen und durch die steile Anordnung der Stuhlreihen stören auch große Menschen in der Reihe vor einem nicht.

Wer mit der Musik etwas anfangen kann, sollte sich „Hamilton“ in London auf keinen Fall entgehen lassen! Die Show ist ihren Preis definitiv wert.


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Freitag, 26. Mai 2017

Gelungene Fortsetzung: "Pirates of the Caribbean: Salazars Rache"

 Disney schickt ein weiteres seiner großen Flaggschiffe ins Rennen um den erfolgreichsten Film 2017, und dieses Mal ist das sogar wörtlich zu nehmen, denn die Piraten segeln wieder! Nach dem Megaerfolg „Die Schöne und das Biest“ sowie dem extrem gut laufendem „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ möchte nun auch „Pirates of the Caribbean: Salazars Rache“ an die Erfolge der anderen „Pirates“-Filme anknüpfen. Und im Gegensatz zum vierten Teil „Pirates of the Karibik: Fremde Gezeiten“ ist dieses Mal der Vorabbuzz auf den Social Media-Seiten überraschend gut gewesen. Zwar ziehen die amerikanischen Durchschnittskritiker das positive Ergebnis mal wieder nach unten (s. Kommentar beim Nachbarblog), aber die sind ja eher selten ausschlaggebend für den Erfolg eines Blockbusters. Und ich als Fan der Reihe kann sagen, dass die bisher hauptsächlich Cineasten bekannten Regisseure Joachim Rønning und Espen Sandberg („Kon-Tiki“) einen würdigen fünften Teil abgeliefert haben. Bestes Popcorn-Kino, das Fans der Reihe auf jeden Fall zufrieden stellen wird.

Captain Jack Sparrow (Johnny Depp) hat ja ein Talent dafür es sich mit allen möglichen üblen Schurken zu verscherzen, und dieses Mal ist es Capitan Salazar (Javier Bardem), der Rache will. Er gibt nämlich Jack die Schuld daran, dass er und seine Crew vor vielen Jahren ihr Leben verloren und als Geister ihr Dasein fristen müssen. Doch jetzt bekommt er Gelegenheit, es Jack zurückzuzahlen, denn dieser ist die letzten Jahre vom Pech verfolgt gewesen. Mitten in diese Pechsträhne platzt Henry Turner (Brenton Thwaites), der mittlerweile erwachsene Sohn von Will Turner und Elizabeth Swann, denn er will unbedingt den Fluch seines Vaters brechen und hofft auf Jacks Hilfe. Ihnen schließt sich die Astronomin Carina Smyth (Kaya Scodelario) an, denn sie alle suchen dasselbe: Den Dreizack des Poseidon, der die Macht über die Meere verspricht und somit auch alle damit verbundenen Flüche brechen kann. Carina ist dabei diejenige, die als Einzige die Karte lesen kann, aber auf dem Weg treffen sie auch noch auf Captain Barbossa (Geoffrey Rush), dem Capitan Salazar ebenfalls im Nacken sitzt. Denn wie soll man sich gegen eine Geistercrew zur Wehr setzen, wenn man diese nicht töten kann?
 
Rønning, Sandberg und Drehbuchautor Jeff Nathason haben es geschafft, nach dem auch bei Fans durchaus kritisierten „Fremde Gezeiten“ wieder ein Piratenabenteuer abzuliefern, dass den Geist des ersten Teils einfängt ohne einfach nur zu kopieren. Die Handlung ist dieses Mal sehr geradlinig erzählt; wer da nicht nachvollziehen kann, wer mit wem warum zusammenarbeitet, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Dem ein oder anderen „Hardcore-Fan“ mag der Film vielleicht sogar zu unkompliziert sein. ;) Dabei tut der Reihe diese Besinnung auf etwas „leichteres“ Storytelling vielleicht sogar ganz gut, denn der Film wird trotzdem niemals langweilig. Wir haben so nämlich mehr Zeit, die neuen Charaktere kennenzulernen und gleichzeitig bei den alten Bekannten mitzufiebern.

Zunächst will man natürlich wissen, ob sich Johnny Depp wieder in seine Paraderolle hineinfinden konnte. Zumindest in der deutschen Fassung fühlt es sich an, als wäre Captain Jack niemals weg gewesen. Allerdings lernen wir dieses Mal eine andere Seite kennen, denn zu Beginn des Films ist er sozusagen am Tiefpunkt angekommen. Ihm im Laufe des Films dabei zuzusehen, wie er sich wieder aus diesem Loch herauszukämpfen versucht, ist durchaus spannend und bringt einen interessanten anderen Blickwinkel für diesen Charakter. Gleichzeitig war man so klug Jack wieder eher als Nebencharakter anzulegen, was hier genauso gut funktioniert wie 2003 im ersten Teil. In etwas sparsamer Dosierung ist Jack nämlich immer am besten.
Die Neuzugänge Brenton Thwaites und Kaya Scodelario schlagen sich sehr gut und fügen sich nahtlos in den Filmkanon ein. Thwaites bringt die Mischung zwischen „Welpencharme“ und starkem Charakter gut rüber, Scodelario überzeugt mit forscher Art und glänzt mit tollen komödiantischen Timing. Nicht zu verachten ist, dass beide eine gute Chemie haben.
Auch Javier Bardem macht eine gute Figur als Geistercaptain und ist ein glaubwürdiger Bösewicht. Die Effekte um ihn und seine Crew herum sind zumeist absolut überzeugend und gelungen, und er bekommt im Gegensatz zu Blackbeard aus „Fremde Gezeiten“ auch eine richtige Motivation dadurch, dass wir in einer Rückblende den Grund für seinen Hass auf Jack Sparrow gezeigt bekommen. Ein wenig schade ist es, dass das Drehbuch ihm keine wirklich ikonische Szene spendiert, sodass er nicht so speziell glänzen kann wie damals Geoffrey Rush im ersten Teil oder auch Bill Nighy als Davy Jones, der allerdings auch zwei Teile für seine Entwicklung hatte. Dennoch ist er beängstigend und gefährlich genug, um eine wirkliche Bedrohung für die Protagonisten darzustellen.

Geoffrey Rush gibt Barbossa auch im fünften Film noch neue Facetten und er ist zu Recht ein Fanfavorit. Hier kommandiert er nun eine ganze Piratenflotte und genießt das dekadente Leben, zumindest bis er auf Salazar trifft. Schön ist es außerdem, dass man zumindest einige alte Bekannte ebenfalls wieder mit ins Boot holen könnte, und so gibt es ein Wiedersehen mit Gibbs (Kevin R. McNally), Marty (Martin Klebba), Scrum (Stephen Graham), Murtogg und Mullroy (Giles New und Angus Barnett), und ja, auch Orlando Bloom und Keiry Knightley als Will und Elizabeth (wenn auch leider mit wenig Screentime). Golshifteh Farahani als Hexe Shansa fällt vor allem durch das faszinierende Äußere des Charakters aus, sie macht aber ihre wenigen Szenen interessant genug, dass man sie gern noch einmal in dieser Rolle sehen würde.
Der Humor sitzt, und fast jeder Spruch oder jede Slapstickeinlage treffen ins Schwarze. Dabei ist der Humor dieses Mal etwas versauter als noch in den Teilen davor, was ja perfekt zu den Piraten passt. Es gibt einige herrlich absurde Dialoge, an die man sich noch gern erinnern wird.
Die Actionszenen verteilen sich gut auf die zweieinhalbstündige Laufzeit; sie sind vielleicht nicht ganz so „irre“ wie in den ersten drei Teilen (da fehlt dann vielleicht das Schräge eines Gore Verbinski), aber sehr unterhaltsam und bieten eine gute Mischung aus cooler Action und Spaß. Technisch gibt es hier sowieso nichts zu meckern, aber das war auch nicht zu erwarten. Zum 3D kann ich nichts sagen, da der Film nur in 2D lief, was aber vollkommen ausgereicht hat.

Der Film bietet zwar die Möglichkeit einer Fortsetzung, allerdings gibt es kein offenes Ende oder einen Cliffhanger. Sollte es also tatsächlich nicht zu einem weiteren Teil kommen, können Fans mit diesem Ende auf jeden Fall zufrieden sein.

Fazit: Mit dem fünften „Pirates of the Caribbean“ werden all diejenigen glücklich, die auch mit den Vorgängern etwas anfangen können. Er bietet eine gelungene Mischung aus übernatürlicher Piratenaction und geradliniger Story mit einer guten Portion Humor. Alle Schauspieler, die „alten Hasen“ sowie die Neuzugänge, liefern tolle Arbeit ab und sorgen dafür, dass dem Zuschauer perfektes Popcornkino mit ein bisschen (gern auch wörtlich zu nehmendem) Tiefgang geboten wird. Reingehen und Spaß haben!