Samstag, 17. Oktober 2020

„The Untamed“: Sehnsucht und Schwarze Magie im alten China

So. Nachdem diese chinesische Serie mich in den aktuellen deprimierenden Zeiten doch echt gut bei Laune gehalten hat und ich ein wenig in der Fan-Community „versackt“ bin, finde ich es nur fair nun auch einen Post dazu zu schreiben.

Aufmerksam wurde ich auf „The Untamed“ (OT: 陈情令, Pinyin: Chén Qíng Lìng) natürlich - wie sollte es auch anders sein - durch diverse Blogs, die mit großer Begeisterung über diese Serie berichteten, nachdem sie Ende 2019 auf dem amerikanische Netflix startete. Ich habe keinerlei Ahnung von chinesischen Drama-Serien, und bin geprägt durch massenhaft amerikanische und deutsche TV-Produktionen (plus Anime, immerhin!). Daher waren die ersten paar Episoden für meine westlichen Sehgewohnheiten erst einmal gewöhnungsbedürftig. Dazu später mehr. Wenn man dran bleibt, zieht „The Untamed“ den Zuschauer aber immer mehr in seinen Bann, und ich habe teilweise furchtbar mitgelitten. 

„The Untamed“ basiert auf dem queeren Roman „Mo Dao Zu Shi“ („The Grandmaster of Demonic Cultivation“) und wurde von der unter dem Pseudonym schreibenden Autorin Mo Xiang Tong Xiu  von 2015 bis 2016 online veröffentlicht. Der große Erfolg des Romans führte u. a. zu einer sehr beliebten Zeichentrick-Adaption (Donghua), einem ebenfalls hochgelobten Audiodrama, einer Manhua-Adaption, und schließlich der Realverfilmung als Webserie auf dem Kanal Tencent Video. Die Serie ist mit 50 Folgen abgeschlossen; es gibt zwei Spin-Off-Filme.
Genau wie der Roman war auch die Serie extrem erfolgreich auf dem chinesischen Markt und gehört zu den am höchsten bewerteten chinesischen TV-Dramen. Wenig überraschend machte dieser Erfolg aus dem beiden Hauptdarstellern Xiao Zhan und Wang Yibo Megastars, wobei beide auch vorher kein unbeschriebenes Blatt waren und v. a. Wang bereits sehr erfolgreich in der Musikbranche war.

 
Wenn du mit deinem Schwarm flirten willst und der dich ignoriert

Bei „The Untamed“ handelt es sich um eine Fantasy-Serie, die dem Wuxia-Genre angehört. Vereinfacht ausgedrückt benutzen die Charaktere eine Mischung aus Meditation, Martial Arts, und Studium von gelehrten Schriften, um ihre magischen Fähigkeiten auszubilden und zu stärken. Diese Fähigkeiten nutzen sie, um die Welt von rastlosen oder bösen Geistern, Dämonen und Monstern zu befreien. Wer besonders stark und rein im Geist ist, kann es bis zur Unsterblichkeit bringen. Das Ganze spielt im (pseudo)historischen China in einer von Klassen geprägten Gesellschaft. Die Charaktere gehören öfter (Familien)Gemeinschaften und -clans an, die sich durch spezielle Magiestile auszeichnen.

Puh okay. Das zum Hintergrund. Generell sind aber selbst dem unbedarften westlichen Zuschauer ein paar asiatische Fantasy-Elemente bekannt, z. B. der ausgeklügelte Schwertkampf in der Luft, wie man ihn u. a. aus „Tiger & Dragon“ kennt.

Worum geht es nun in „The Untamed“?
Wei Wuxian (Xiao Zhan) ist als der gefürchtete Yiling Patriarch bekannt, der Dämonische Magie gegen die anderen Clans einsetzte und für den Tod vieler Menschen verantwortlich war. Sechzehn Jahre nach seinem Tod wird er in einem Opferritual wiedergeboren. Daran geknüpft ist jedoch die Bedingung, dass er die Person rächt, die sich für ihn geopfert hat. Wei Wuxian nimmt das mal so hin und trifft auf seiner Mission nicht nur seinen - nicht gut auf ihn zu sprechenden - Bruder, sondern auch seinen früheren besten Freund und Seelenverwandten Lan Wangji (Wang Yibo).

Der folgende Flashback zeigt, wie sich Wei Wuxian und Lan Wangji als Teenager kennenlernen, und trotz Lan Wangjis frostiger Unnahbarkeit Freunde werden. Im Hintergrund droht die Machtgier des Bösewichts Wen Ruohan, der alle anderen Clans unterjochen will, was schließlich zum Krieg führt. Wei Wuxian und Lan Wangji sowie ihre Freunde und Familien werden in diesen Konflikt hineingezogen und wir sehen, wie Sonnenschein Wei Wuxian durch äußere Umstände und eigene Entscheidungen auf einen Pfad gerät, der ihn schließlich zum bei allen verhassten Yiling Patriarch macht.

 
Die beste Schwester auf der ganzen Welt

„The Untamed“ macht es einem am Anfang nicht unbedingt leicht. Selbst für Leute, die viele chinesische Dramen sehen, ist die Erzählstruktur etwas seltsam. Nach zwei Episoden in der Gegenwart folgt ein 30-Episoden-langer Flashback. Und für jemanden, der chinesische Dramen nicht kennt, kommt noch der Mini-„Kulturschock“ dazu. Denn natürlich werden Szenen etwas anders inszeniert, die Charakterentwicklung läuft anders ab, manches wirkt zunächst sehr „over the top“, aber soll so. Die Serie lässt sich Zeit, und manche dramatischen Momente oder Genrekonventionen wirken erst dann so richtig, wenn man die Kultur versteht.

Hinzu kommt dann noch die Sprachbarriere - derzeit liegt die Serie nur im chinesischen O-Ton mit englischen Untertiteln vor (und diese Untertitel sind teilweise auch eher missverständlich, je nachdem welche Quelle man nutzt). Viele Charaktere haben nicht nur zwei Namen, sondern gleich noch ein oder zwei Titel, und „dank“ der ethnischen Gesichtsblindheit sehen erst einmal viele Schauspieler gleich aus.

Aber! Durchhalten! Eventuell sogar Episoden 1 und 2 komplett überspringen. Denn die Serie hat mich irgendwie „eingesogen“. Am Anfang fand ich es alles etwas schräg, und hab mich gefragt, wie aus diesem verrückten, fröhlichen Kerl bitte schön der von allen gefürchtete und verhasste Yiling Patriarch werden soll. Bei Episode, oh sagen wir 10, war ich so dermaßen in der Serie drin und hing an all diesen Charakteren, dass Abbrechen keine Option mehr war.

Die schöne und zunächst tragische Liebesgeschichte zwischen Wei Wuxian (der das alles erst einmal gar nicht mitbekommt, aber trotzdem auf seine Art vor sich hin leidet) und Lan Wangji (der nach anfänglicher verwirrter Abneigung sehr schnell „all in“ ist und gleich mal ein Liebeslied komponiert) ist einfach großartig.
Alle romantischen Klischees werden erfüllt - lange sehnsuchtsvolle Blicke, ständige Berührungen, im Kampf zusammenhalten, sich als „Seelenverwandte“ bezeichnen, von den Umständen getrennt werden, zusammen in einer Höhle gefangen sein…
Das ganze Produktionsteam und die Schauspieler geben sich außerdem alle Mühe, trotz der chinesischen Zensur diese Liebesgeschichte deutlich zu machen. Wer Verfilmungen von Jane Austen-Romanen u. Ä. mag, wo die Protagonisten ewig umeinander kreisen und sich nacheinander sehnen, aber von äußeren Umständen zunächst an ihrer Liebe gehindert werden, der ist hier goldrichtig.

 
 Ihr versteht das nicht, die beiden starren sich wirklich die ganze Zeit so an (oder einander sehnsuchtsvoll hinterher).

Es ist aber nicht nur diese Dynamik (und die unglaublich gute Chemie der beiden Hauptdarsteller), die die Serie so gut macht. Gefundene Familien sind ein großes Thema. So wurde Wei Wuxian nach dem Tod seiner Eltern adoptiert und liebt seine Adoptivgeschwister Jiang Cheng (Wang Zhuocheng) und Jiang Yanli (Xuan Lu) über alles. Ein Teil des Wen-Clans wird nach dem Krieg für Wei Wuxian zu einer zweiten Familie. Und in der Gegenwartshandlung bilden die vier Junior-Schüler ein lustiges Quartett und werden sozusagen von Wei Wuxian adoptiert. Generell gibt es auch viele leichte und lustige Momente, es ist längst nicht durchgängig so dramatisch, wie es hier klingt.

„The Untamed“ ist einfach sehr gut darin, dem Zuschauer seine Charaktere so nahe zu bringen, dass es ihn kümmert. Ich möchte, dass Lan Wangji und Wei Wuxian glücklich werden.  Ich leide mit ihnen und mit Jiang Cheng, der richtig viel durchmachen muss. Ich bin ebenso frustriert wie die Charaktere, wenn Jiang Yanli und ihr Verlobter mal wieder eine unglaublich unangenehme Nicht-Unterhaltung führen (oh mein Gott, redet doch einfach mal miteinander!). Ich möchte Wen Ning einfach nur knuddeln und bewundere seine Schwester Wen Qing für ihre sachliche Art. Die Nie-Brüder sind so unterschiedlich und so toll, und Lan Wangjis Bruder Lan Xichen trägt so viel auf seinen Schultern… Selbst die Junior-Schüler, bei denen ich mir zunächst nicht sicher war, sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen und jetzt liebe ich sie (hervorragendes Comic Relief!). Und mein Lieblingssoziopath Xue Yang sorgt für einige sehr dramatische Momente.

 
Links Stil-Ikone Jiang Cheng, rechts der immer elegante Lan Xichen.

Tatsächlich sind die Schauspielleistungen auch durch die Bank weg zumindest gut wenn nicht sogar großartig (nicht unbedingt immer gegeben in chinesischen Dramaserien). Allen voran Xiao Zhan spielt sich wirklich die Seele aus dem Leib und kann eine große Fülle an Emotionen zeigen; von überschäumenden Freude zu abgrundtiefer Verzweiflung ist alles dabei. Wang Yibo hat mehrmals für Lan Wangji vorgesprochen, aber man war sich unsicher, ob er die Rolle glaubhaft verkörpern könnte. Letztlich war es die richtige Entscheidung ihn zu nehmen. Es ist beeindruckend, mit welch winzigen Änderungen im Gesichtsausdruck Wang das Gefühlsleben von Lan Wangji darstellen kann, und als Zuschauer wird man irgendwann so gut wie Wei Wuxian darin, seine Stimmung anhand des minimal gehobenen Mundwinkels oder der leicht angespannten Augenbraue zu erkennen.

Aber auch viele andere bleiben sehr positiv im Gedächtnis, Xuan Lu und Wang Zhuocheng als die Jiang-Geschwister, Ji Li als der verhuschte Nie Huaisang, Liu Haikuan als Lan Wangjis stets eleganter und gütiger Bruder Lan Xichen, Meng Ziyi als kompetente Ärztin Wen Qing, Guo Cheng als vorwitziger Lan Jingyi, Yu Bin als schüchterner und doch mutiger Wen Ning, Zhu Zanjin als stets dienstwilliger Meng Yao… ach eigentlich sind sie alle erwähnenswert.

Und glücklicherweise war es auch nach wenigen Episoden kein Problem mehr, die ganze Charaktere auseinanderzuhalten. Go me!

Nicht nur die Charakterentwicklung profitiert von der von Anfang an festgelegten Episodenzahl. Es gibt einige Handlungspunkte, die erst zum Ende hin wirklich erklärt oder näher beleuchtet werden. Auf manche Dinge wird schon sehr früh hingewiesen, anderes erhält kleine Andeutungen hier und da, und wenn sich dann später alles zusammenfügt, hat sich das Warten wirklich gelohnt und man ist als Zuschauer vollauf zufrieden. Manche Twists sollte man vorher wirklich nicht wissen. Ich war leider schon für alles Wichtige gespoilert, habe mich aber trotzdem gefreut oder war schockiert. Aber manches nicht gewusst zu haben... das wäre noch besser gewesen.

 
Pretty Pretty!

Das Budget für die Serie war beschränkt und dies sieht man auch manchmal. Man hat wohl den Großteil des Budgets in die Kostüme, Perücken und Ausstattung gesteckt, was eine sehr gute Entscheidung war. Besonders die Kostüme sind wunderbar und unterstreichen die Charaktere sehr gut. Jiang Cheng ist eine Stilikone in Lila (und manchmal Türkis) und Wei Wuxian rockt den schwarz-roten Emo-Look. Die Lans sind fehlerlos elegant in weiß und blau, und Wen Qings rote Roben sind ein Hingucker.

Manche der Sets sind wunderschön, v. a. Lotus Pier und Koi Tower haben eine tolle Ästhetik. Die Kamera fängt diese Orte in schönen Kamerafahrten ein; generell ist die Kameraarbeit häufig sehr gut und passend, v. a. in den Außenaufnahmen. Die Serie ist tatsächlich einfach schön anszusehen.

Wie viele chinesische Historien-Dramen ist auch „The Untamed“ synchronisiert. Dies hat mehrere Gründe, u. a. die vielen unterschiedlichen Dialekte der Schauspieler und schwankende Tonqualität durch Außendrehs. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass die Betonung etwas off war, aber die meiste Zeit war die Synchro überzeugend und passend. Ji Li als Nie Huaisang ist übrigens der einzige Darsteller, der sich selbst synchronisiert hat.

 
So ikonisch, dass jeder, der die Serie gesehen hat, diesen Screenshot sofort zuordnen kann.

Nun, wenn das Geld in Kostüme und Ausstattung geflossen ist, wo hat man dann gespart? Bei den Special Effects. Manches ist gut gelungen (z. B. die schwarzen Raucheffekte, wenn Wei Wuxian Dämonische Magie benutzt), aber vieles ist nicht gerade überzeugend. Gleich die erste Szene hat Schwerter, die offensichtlich nicht durch Hände oder in Körper stechen. Die wandelnde Statue und v. a. das Schildkröten-Schlangen-Hybrid-Monster sind aus einem mittelmäßigen bis schlechten B-Film aus den 2000ern. Und über den animatronischen Hund aus den 60ern hüllen wir lieber ganz den Mantel des Schweigens.
Aber die Schauspieler bemühen sich nach Kräften, das Ganze glaubwürdig rüberzubringen und tun was sie können. Und ehrlich gesagt sehe ich lieber schlechte CGI-Effekte als miese Kostüme - die tragen die Charaktere nämlich die ganze Zeit, während die Effekte nur hin und wieder zum Einsatz kommen. 

Es gibt für das Genre vergleichsweise wenig ausgedehnte Kampfszenen, die mal mehr, mal weniger gut choreografiert und gefilmt sind. In dieser Serie liegt der Fokus aber offensichtlich nicht auf ausgeklügelten Kampfszenen, sondern auf Charakterentwicklung und -interaktion, Drama, politischem Kommentar und Ähnlichem.

Besonderes Augenmerk wird tatsächlich auf den Einfluss der öffentlichen Meinung gelegt: Wie leicht lassen sich Menschen beeinflussen, wie schnell bringen Gerüchte jemanden zu Fall, wie schnell dreht sich die öffentliche Meinung, wenn nur die richtigen Leute etwas zu sagen haben oder wenn ein neuer Sündenbock gefunden wird?

Nein, dies ist keine Fanart, sondern ein offizieller Still aus der Serie

Sehr spannend auch zu sehen, wie unterschiedlich Charaktere mit Schuld umgehen; oder wie es sich auswirkt, wenn die Familie gewissen Erwartungen an einen stellt oder man unter sehr strikten Vorschriften aufgewachsen ist. Jeder der Hauptcharaktere hat sein Päckchen zu tragen und ist nicht ohne Trauma durch die Kindheit gekommen. Jedoch gehen alle unterschiedlich damit um und man kann sich ein wenig in Analysen verlieren, wenn man das möchte. Es gibt außerdem mehrere Parallelen zwischen den Charakteren, was ihre Ausgangslagen im Leben angeht, und welch unterschiedliche Wege sie einschlagen.

Wer sich nach diesem langen Sermon tatsächlich einmal an „The Untamed“ versuchen will, kann dies derzeit entweder auf Youtube oder Viki.com tun. Auf beiden Seiten liegt die komplette Serie mit englischen Untertiteln vor. Ich fand die Untertitel auf YouTube teilweise etwas einfacher zu lesen, Viki ist aber wohl etwas näher am Originaltext und hat keine Tonprobleme, dafür aber deutlich mehr Werbung.

Wer einen etwas fan-lastigeren Kommentar zur Serie lesen möchte, dem kann ich Aja Romanos Review empfehlen. Diverse Links in ihrem Artikel enthalten jedoch Spoiler.

Fazit: "The Untamed" bietet packende Charaktere in einer manchmal tragischen, manchmal richtig lustigen Handlung. Man sollte nicht alles auf Logik hinterfragen und auch die Special Effects Special Effect sein lassen. Genießt einfach die langsam entstehende Liebesgeschichte zwischen den Hauptcharakteren sowie die spannenden Verwicklungen zwischen den ganzen Charakteren. Ein guter Einstieg in die Welt der chinesischen TV-Dramen und dort eines von sehr hoher Qualität.

 

 
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Dienstag, 4. Februar 2020

"1917": Sam Mendes und Roger Deakins in Hochform




Ich mag keine Kriegsfilme. Es ist einfach nicht meine Art Film, häufig brutal und dazu noch deprimierend. Denn Kriegsfilme sind heutzutage so gut wie immer auch Anti-Krieg-Filme, die uns die Graumsamkeit und Unmeschlichkeit eines Krieges vor Augen führen sollen, und natürlich keine Propaganda mehr. Und so folgt man meist einer Hauptfigur oder auch einer kleineren Gruppe, die irgendwann mitten im Schlachtengetümmel ist, rechts und links werden Menschen im Kugelhagel niedergemetzelt, evtl. hält man auch gern noch drauf, wenn Körperteile durch Granaten weggesprengt werden, oder ein Helikopter vom Himmel stürzt.

Die Hauptfiguren vollbringen irgendwelche Heldentaten, erfüllen ihre Mission, beenden vielleicht sogar den ganzen Krieg und werden gefeiert – oder sterben zumindest effektvoll als Helden. Und am Ende wird uns wieder gesagt, wie schrecklich Krieg doch ist und dass wir das doch bitte sein lassen sollen. Da sterben schließlich Menschen auf grausame Art. Und wir haben zwei Stunden der Inszenierung eben dieser Todesszenen zugeschaut; den Explosionen, dem Schlachtengetümmel, den Stunts der Kampfflieger, den verstümmelten Körpern, die man so auch aus dem letzten Horrorfilm kennt.


Denn immer ist ein Kriegsfilm, der uns tatsächlich Schlachten zeigt, irgendwo auch ein Spektakel. Und die abgehärtete Jugend von heute sitzt da und denkt sich im schlimmsten Fall nur, was für eine krasse coole Action sie da sieht. Leute, denen der Kopf weggeschossen wird, das kennen sie schließlich aus dem letzten Tarantino; abgetrennte Körperteile aus „Saw“ oder „Hostel“. Denn ja, es werden die Grausamkeiten des Krieges gezeigt, denn wir machen keine Propaganda – aber trotz aller Ernsthaftigkeit braucht es eben doch oft auch Spektakel. Das will das Publikum sehen. Und so verhallt häufig dann doch der vorgesehene Effekt – war schon schlimm damals, aber die Action war schon auch toll.


Natürlich sind nicht alle Filme so, es gibt auch Vertreter mit niedriger Altersfreigabe, die dennoch sehr gut funktionieren und das Publikum fesseln können. Aber viele der Filme, die häufig als moderne Klassiker des Genres angesehen werden, bedienen dieses Spektakel auf gewisse Weise – irgendwann gibt es eine Schlacht, einen Helikopterabsturz, einen Angriff auf beengtem feindlichen Gebiet.

Und deswegen mag ich „1917“. Sehr sogar. Es ist ein Kriegsfilm, den ich mir gerne noch einmal anschauen werde, weil er extrem effektiv und großartig anzusehen ist. Für mein Empfinden hat dieser Film die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges besser illustriert als manch „lauterer“ Vertreter des Genres. Ich werde „Der Soldat James Ryan“ vermutlich nie mehr gucken, „1917“ dagegen schon.

Der Film beginnt mit den beiden jungen Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay), denen der Auftrag erteilt wird, einer neun Meilen entfernten Division eine wichtige Nachricht zu überbringen. Die Division soll einen für den nächsten Tag geplanten Angriff absagen, denn neueste Informationen zeigen, dass sie in eine Fallen laufen würden. Da Blakes älterer Bruder zu eben dieser Division gehört, wird der Auftrag zu einer besonders persönlichen Mission. Auf dem Weg liegen das tückische Niemandsland zwischen den Schützengräben und die zerbombte Stadt Ecoust, sowie die allgegenwärtige Angst, jederzeit auf den Feind treffen zu können.


Die beiden Hauptdarsteller sind hervorragend. MacKay kennt man u. a.  aus „Captain Fantastic“ mit Viggo Mortensen. Er spielt den eher vorsichtigen, etwas älteren Soldat mit bereits ernsthafter Kampferfahrung; Chapman's Blake hingegen ist offensichtlich noch nicht so lange an der Front und sieht das Ganze noch als Chance, Ehre für die Familie und das Vaterland zu bringen.


Regisseur Sam Mendes ist gerade bei den Charakteren ein Meister in „Show Don’t Tell“. Es gibt keine typischen „Lagerfeuerszenen“, wo die Protagonisten sich etwas aus ihrer Kindheit erzählen oder über die Liebste sinnieren, die sie heiraten werden, wenn sie nach Hause kommen. Die (wenigen) Dialoge machen die Charaktere lebendig und geben einen kleinen Einblick, wie sie ticken. Gerade der verschlossenen Schofield gewinnt mit der Zeit an Profil. Die Natur des Films (Mission mit engem Zeitlimit) bietet uns nicht viel Gelegenheit, die Charaktere wirklich zu vertiefen – aber das muss sie auch gar nicht. Wir bekommen die Essenz der Charaktere gezeigt, man leidet mit ihnen, und gleichzeitig sind sie eben nur zwei von Millionen von Soldaten, die genauso sind wie die beiden.
Unterstützt werden die beiden eher unbekannten Hauptdarsteller durch berühmte Namen in kleinen, aber wichtigen Nebenrollen. Colin Firth, Benedict Cumberbatch, Mark Strong – sie alle bringen eine gewisse Gravitas mit, die die Autorität ihrer Charaktere unterstreicht. Besonders im Gedächtnis blieb mir auch Andrew Scott („Sherlock“, „Fleabag“), der am Anfang als zynischer Leutnant den beiden Soldaten den Weg erklärt.

Wenn über „1917“ berichtet wird, dann auch immer im Zusammenhang mit Kameraführung und Schnitt. Der Film ist nämlich so gedreht, als gäbe es keine Schnitte (bis auf einen so gewollten „Blackout“). Manche sehen dies als unnötigen Gimmick an, ich fand jedoch, dass es die Spannung sehr stark erhöhte. Der Zuschauer bekommt dadurch keine Atempause, sondern ist quasi die ganze Zeit „mit dabei“ - ist so angespannt wie die Charaktere, die genau so wenig wie wir wissen, ob hinter der nächsten Biegung nicht ein feindlicher Soldat lauert. Die erste Hälfte im Niemandsland und den deutschen Schützengräben wirkt beinahe wie ein Horrorfilm, so wird hier an der Spannungsschraube gedreht.
Die Kameraarbeit von Altmeister Roger Deakins ist exquisit und sollte ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit seinen zweiten Oscar einbringen. Er findet grandiose Bilder, sei es das abstoßende Niemandsland, ein reißender Fluss, ein Wettlauf mit der Zeit am Rand des Schützengrabens oder eine nur von Feuer und Leuchtraketen erhellte Stadt bei Nacht. Einige dieser Szenen sind tatsächlich Szenen für die Ewigkeit, so einprägsam sind sie. Die zweite Hälfte des Films hat beinahe schon eine surreale Anmutung, was sich durch die vorangehenden Geschehnisse aber tatsächlich erklären lässt.


Ebenfalls wirklich toll sind Sounddesign und Musik. Thomas Newman unterstützt mit seinem Score den Film hervorragend. Hinzu kommt ein wunderschön wehmütiger Moment, in welchem das Lied „Poor Wayfaring Stranger“ gesungen wird.



Warum nun meine Einleitung über Spektakel in Kriegsfilmen? Weil diese Art Spektakel in „1917“ fast vollständig fehlt. Wenn man so will, kann man die Art der Kamerarbeit als Spektakel bezeichnen, wobei sie zumindest mich nie vom Geschehen abgelenkt, sondern dieses im Gegenteil noch unterstützt hat. Aber wir sind in keiner Schlacht, notwendige Kämpfe sind schnell vorbei und der einzige wirklich heroische Moment ist tatsächlich auch verdient (und selbst der wird danach wieder gedämpft).
Und doch zeigt der Film die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges sehr effektvoll und vermutlich sogar nachhaltiger als viele andere Kriegsfilme. Denn wir sehen das Nachspiel. Das Niemandsland besteht aus Schlamm, Granatenkratern, Stacheldraht – und Leichen. Leichen, Ratten, Tierkadaver. Von der Kamera nicht effektheischerisch eingefangen, sondern als Fakt präsentiert. Da müssen die beiden Hauptfiguren eben dran vorbei. Dies ist auch nicht das einzige Mal, dass die Opfer des Krieges gezeigt werden. „Niemanden zurücklassen“ - dafür bleibt im Krieg dann doch meist keine Zeit. Und obwohl die Mission wichtig ist, ist es eben doch nur ein weiterer Tag in diesem Krieg. Und am nächsten Tag wird es wieder genauso sein, man macht weiter, rennt in sein Verderben, Tausende sterben – für Linien auf einer Karte.

Der Film hat eine starke Nachwirkung, ich hatte danach wirklich das Bedürfnis, das zu diskutieren und zu überlegen, warum mir der Film so gut gefallen hat. Ja, die Handlung ist nicht gerade verschachtelt, aber das muss sie ja auch nicht sein. Simpel aber dafür effektiv. 


Fazit:
Hervorragend gespielt und gekonnt inszeniert, ist "1917" ein Kriegsfilm, den man tatsächlich gesehen haben muss. Je größer die Leinwand, desto besser.