Da ist Deutschland also wieder auf dem letzten Platz gelandet. Nur fühlt es sich dieses Mal deutlich unverdienter an, da Lord of the Lost’s Lied „Blood and Glitter“ eigentlich eine gute Nummer war. Dazu noch auffällige Kostüme und Pyrotechnik; das sollte doch ein gutes Ergebnis zumindest irgendwo im Mittelfeld einfahren, oder?
Nö. Nur 3 Punkte von den Jurys (erwartbar) und 15 vom Publikum (überraschend; Danke an Österreich, Finnland und die Schweiz). Was lief also schon wieder schief?
Nicht so einfach zu sagen dieses Jahr. Am ehesten kann ich die Begründung nachvollziehen, dass der Auftritt eben als Konzert angelegt war – für den ESC muss man aber v. a. für die Zuschauer zu Hause vor dem TV inszenieren und nicht (nur) für das Publikum in der Halle. Das war bei Lord of the Lost leider nicht der Fall; die Kameraführung war nichts Besonderes, keine Gimmicks fürs TV-Publikum, rote Kostüme plus rotes Licht in der Totalen = die Band verschwindet geradezu im Bild. Das hätte viel besser konzipiert werden müssen. Aber Staging für den ESC kann Deutschland ja generell nicht; der Einzige, bei dem alles perfekt zusammenpasste, war Michael Schulte in 2018, und da hat Schulte wohl recht viel selbst gemacht. Dies wurde mit Platz 4 belohnt.
Ich denke schon, dass die Big 5 sich mehr anstrengend müssen, um beim Publikum genug Eindruck zu hinterlassen, dass für sie angerufen wird. Ich glaube aber nicht, dass es damit zu tun hat, dass „uns jeder hasst“, wie so gern behauptet wird. Vermutlich ist es eher der Nachteil, sich nicht in den Halbfinalen beweisen zu müssen – dort werden die schlechteren Nummern gleich ausgesiebt und so müssen die Big 5 dann im Finale gegen Lieder antreten, die bereits vom Publikum unbedingt im Finale gesehen werden wollten.
Ein wenig tröstlich ist, dass bei Betrachtung der kompletten Zuschauerergebnisse auffällt, dass Lord of the Lost gar nicht sooo schlecht ankamen. Bis auf wenige Ausreißer nach oben oder unten landeten sie immer im Mittelfeld – 26 Mal irgendwo zwischen Platz 11 und 18, und hauptsächlich zwischen 14 und 18. Das ist auch grob der Bereich, in dem ich sie am Samstag auch eingeordnet hätte.
Sie wurden also durchaus gemocht – nur nicht genug, um dafür auch Punkte zu bekommen. Es wird schon seit einigen Jahren von den Fans gewünscht, dass alle Plätze des Rankings Punkte bekommen sollen, um eben ein faireres Bild zu zeichnen. Im aktuellen Modus erhalten die zehn besten Beiträge Punkte, alle anderen (in diesem Jahr 16 Beiträge) gehen komplett leer aus. Ein Land, das überall auf Platz 11 liegt, bekommt also ebenso 0 Punkte wie das Land, das überall Vorletzter ist. Und Länder, die allgemein zwar überhaupt gar nicht ankommen, aber dann von dem einen Nachbarland gemocht werden (klassisches Griechenland – Zypern oder Italien – San Marino) und dort viele Punkte bekommen, landen im Endstand dann vor Ländern, die überall im guten Mittelfeld waren.
Das System sollte überholt werden. Und wenn man schon mal dabei ist, kann man die Gewichtung von Publikum und Jury auch gleich anpassen. Ich will es nicht ein weiteres Mal erleben müssen, dass die Jurys sich anscheinend abgesprochen haben und ein bestimmtes Land auffällig oft auf Platz 1 oder 2 setzen, sodass es für den Publikumsfavoriten eigentlich unmöglich ist, noch zu gewinnen. Es kann nicht sein, dass 222 Menschen die gleiche Stimmgewalt haben wie mehrere hundert Millionen Menschen! Irgendjemand hatte es dieses Jahr ausgerechnet, und bei dem diesjährigen Abstimmungsergebnis hätte Käärija aus Finnland aus allen Ländern beim Publikum 12 Punkte erhalten müssen, um einen schwedischen Sieg zu verhindern – und hätte dann mit einer lächerlichen Punktezahl von 10 Punkten Vorsprung oder so gewonnen.
Und das darf einfach nicht sein. Das Einzige, was mich nicht komplett rasend vor Wut macht, ist, dass Schweden Zweiter im Publikumsvoting war. Zwar für mich unverständlich, da Loreens „Tattoo“ nur eine schlechtere Version von „Euphoria“ war, dazu noch mit einer deutlich langweiligeren Inszenierung, aber sei’s drum. So kann man zumindest sagen, dass das Publikum das Lied ja auch sehr mochte – allerdings mit weitem Abstand hinter Finnlands Käärija mit „Cha Cha Cha“ (376 zu 243 Punkten). Loreen bekam aus keinem einzigen Land von den Zuschauern 12 Punkte – Käärija dagegen in überwältigender Anzahl.
Es gab schon andere Jahre, wo der Juryfavorit gewonnen hat, Duncan Laurence aus den Niederlanden zum Beispiel, oder Jamala aus der Ukraine. Allerdings gab es in diesen Jahren keinen so deutlichen Publikumsfavoriten, die letztlichen Sieger waren auch beim Publikum sehr beliebt, und so erschien das Ergebnis wie ein guter Kompromiss.
Nicht so in diesem Jahr. Das Publikum wollte „Cha Cha Cha“, mit absoluter Mehrheit. Die Jurys haben jedoch einen belanglosen Dancepop-Song durchgedrückt von ihrem Jedes-Jahr-aufs-Neue-Favoriten Schweden, ebenfalls mit solch erdrückender Mehrheit, dass es einfach nur unglaubwürdig wirkt. Wirklich? So viele Jurys fanden, dass dies die absolut beste Komposition im Wettbewerb war? Die ständige Erwähnung, dass ja im nächsten Jahr ABBAs Sieg 50-jähriges Jubiläum hat, tat sein Übriges dazu, um von den Fans ein abgekartetes Spiel zu vermuten.
Dieses Ergebnis wird vermutlich nur dazu führen, dass in den kommenden Jahren die Fans noch extremer für den schrägen Fan-Favoriten abstimmen werden, um zu verhindern, dass die Jury wieder langweiligen Mainstream-Pop gewinnen lässt. Dies wiederum nimmt anderen Beiträgen möglicherweise auch ein paar Punkte weg. Viele vermuten, dass z. B. Finnland einiges an Anrufen von anderen, in der Fan-Community durchaus beliebten Beiträgen wie Australien, Deutschland, oder auch Österreich, abgezogen hat.
Die Jurys wurden nach Russlands Sieg 2008 eingeführt, um „mehr Wert auf die Songqualität“ zu legen. Dem Western war das Votingverhalten des Ostblocks ein Dorn im Auge, die immer wieder mit lauten Spaß-Nummern weit vorne landeten (wir erinnern uns an die Brot backenden Omas oder die polnische Butterstampferin). "Punktschieberei! Unfair!", wurde vom Westen skandiert. Dass die osteuropäischen Länder sich eventuell gegenseitig Punkte geben, weil sie sich kulturell nahestehen und einen sehr ähnlichen Geschmack haben, kam den Kritikern anscheinend nicht in den Sinn. Und dass es im Westen ebenfalls diese „Nachbarschaftshilfe“ gab, wo sich z. B. die Skandinavier regelmäßig gegenseitig hoch bepunkteten und Griechenland – Zypern bereits eine Art Running Gag war, wurde geflissentlich ignoriert. Mehr noch, wenn man von den Nachbarländern mal keine 12 Punkte bekam, wurde gleich geheult, wie das denn sein kann. Heute bekommt Deutschland eigentlich nur sicher aus der DACH-Region Punkte. Die frühere „Mallorca-Connection“ besteht schon lange nicht mehr.
Nachbarschaftshilfe ist beim ESC normal und gehört auch irgendwie dazu, über irgendwas muss man sich ja aufregen. ;) Mir wäre es lieber, wenn die Jurys wieder abgeschafft würden. Ich kann eher damit leben, dass das Publikum mehrmals hintereinander eine Blödelnummer aus Osteuropa wählt, als dass die Jury den Sieg von überdeutlichen Publikumsfavoriten so offensichtlich verhindert. Und für einen Sieg beim Publikum muss ein Song sowieso flächendeckend gut ankommen, da reichen nicht nur ein paar Nachbarländer.
Ein bisschen „Korrektur“ durch die Jurys kann ich jedoch dahingehend sehen, dass früh startende Länder im Finale benachteiligt sind. Die Zuschauer sitzen vielleicht noch nicht alle bequem vorm TV sondern kramen noch rum, kommen später nach Hause etc. Siehe Österreich dieses Jahr, die große Fan-Favoriten waren, aber auch nur wenige Publikumspunkte bekamen. Da spielte möglicherweise nicht nur die Inszenierung eine Rolle, sondern auch der Starplatz.
Von daher könnte ich damit leben, die Jurys zu behalten, ihnen aber weniger Macht zu geben. Vielleicht eine Verteilung von 25% Jurypunkte und 75% Publikum. So wie es aktuell ist, ist es leider eher unbefriedigend. Und das Publikum hat ja gezeigt, dass es durchaus vernünftige Entscheidungen treffen kann – die Halbfinale dieses Jahr waren reines Zuschauervoting und das hat sehr gut geklappt. Hinzu kommt, dass Zuschauer sich… deutlich schlechter bestechen lassen. ;)
Wie dem auch sei. Dieses Jahr bleibt leider ein schaler Beigeschmack, nicht nur, weil Deutschland dieses Mal doch unverdient ganz hinten gelandet ist, sondern auch, weil die Jurys mit ihrem auffälligen Voting den Sieg des absoluten Publikumslieblings verhindert haben. Nun also zum gefühlt hundertsten Mal Schweden… yay?
Nette kleine Randnotiz:
Obwohl Lord of the Lost bei den Jurys allgemein sehr schlecht ankamen, gab es doch vereinzelte Jurymitglieder, die Gefallen am deutschen Beitrag fanden. In Rumänien sah man uns einmal auf Platz 5, Norwegen hatte zwei Mitglieder, die uns auf Platz 6 setzten, und in Irland sah man uns auf 6 und 7.
Besonders erwähnen möchte ich jedoch die Jurymitglieder, die uns auf Platz 2 (!) setzen: Vielen Dank an die Juroren aus Aserbaidschan, Estland, und Tschechien. Schön zu sehen, dass unser Beitrag euch gefallen hat!